Dirigentinnen erobern (langsam) die Konzertsäle
Beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker gab es schon vieles, eine Frau am Dirigentenpult aber noch nie. Und von den 129 Berufsorchestern in Deutschland wurden Anfang 2023 gerade einmal vier von Dirigentinnen geleitet. Die Beispiele zeigen: Weibliche Maestri sind in der klassischen Musik nach wie vor die Ausnahme. Doch die Zeiten ändern sich langsam.
Von Einzelfällen und Wegbereiterinnen
Dirigentinnen gab es in der Musikgeschichte immer wieder. Die italienische Barock-Musikerin Vittoria Raffaela Aleotti zum Beispiel, die bereits im 17. Jahrhundert das Orchester des Klosters San Vito leitete. Oder rund 100 Jahre später die dirigierende Herzogin Sophie Charlotte von Hannover. Oder, weitere 150 Jahre danach, Josephine Weinlich, die in Wien das erste europäische Frauenorchester gründete.
Eine bleibende Wirkung hinterließen sie alle nicht, das Dirigat blieb stets eine Männerdomäne. Auch 1938 noch, als Antonia Brico, eine US-Amerikanerin niederländischer Herkunft, als erste Frau das New York Philharmonic Orchestra dirigieren durfte. Ein so außergewöhnliches Ereignis, dass ihr gleich zwei Filme gewidmet wurden: der für den Oscar nominierte Dokumentar-Streifen „Antonia: A Portrait of the Woman“ (1974) und der Spielfilm „Die Dirigentin“ (2021).
Endgültig haben die Geschlechter-Barrieren Simone Young und Marin Alsop niedergerissen. Die Amerikanerin Alsop steht seit der Saison 2007/2008 dem Baltimore Symphony Orchestra vor und leitete damit als erste Frau ein großes US-Orchester. Die Australierin Young zählt zu den bedeutendsten Dirigentinnen der 2000er-Jahre, sie arbeitete mit führenden Orchestern in New York, London, Paris, Berlin oder Zürich zusammen. An der Wiener Staatsoper dirigierte sie fast alle bedeutenden Werke von Richard Wagner und Richard Strauss.
Fünf Top-Dirigentinnen der Gegenwart
Heute tritt eine neue Generation von Dirigentinnen in die Fußstapfen der großen Vorbilder, einige genießen bereits internationales Renommee. Wir präsentieren fünf Beispiele:
Joana Mallwitz
Die seit kurzem 37-jährige Deutsche wurde von der Fachzeitschrift Opernwelt 2019 zur „Dirigentin des Jahres“ gewählt. Bereits zuvor fungierte sie als Generalmusikdirektorin am Theater Erfurt und am Staatstheater Nürnberg. 2020 war sie die erste Dirigentin, der mit „Cosi fan tutte“ eine ganze Opern-Aufführungsserie bei den Salzburger Festspielen anvertraut wurde. Seit kurzem ist sie die Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin.
Oksana Lyniv
Die Ukrainerin (45) sorgte in den letzten Jahren für zwei Weltpremieren: 2021 leitete sie als erste Dirigentin die Festspielpremiere bei den Bayreuther Festspielen, ein Jahr später wurde sie die erste Leiterin eines italienischen Opernhauses, des Teatro Comunale di Bologna. Auch in Österreich war die Tochter eines Musiker-Paares immer wieder zu sehen, insbesondere durch ihr Engagement als Chefdirigentin der Grazer Oper von 2017 bis 2020.
Marie Jacquot
Einen ungewöhnlichen Karriereweg hat Marie Jacquot hinter sich. Die 1990 geborene Französin war auf dem besten Weg zur Profi-Tennisspielerin, ehe sie sich mit 15 für die Musik entschied. Mit Erfolg, denn zu ihren Arbeitgebern zählten unter anderem das Mainfranken Theater Würzburg und die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf. Ab heuer ist sie erste Gastdirigentin der Wiener Symphoniker und gibt unter anderem ein dreitägiges Gastspiel in Salzburg, im kommenden Jahr wird sie Chefdirigentin des Royal Danish Theatre Kopenhagen.
Elim Chan
Seit 2019 Chefdirigentin des Antwerp Symphony Orchestra und bis vor wenigen Monaten auch fixe Gastdirigentin des Royal Scottish National Orchestra, feierte Elim Cham 2023 ihr fulminantes Debüt bei den Salzburger Festspielen. Sie dirigierte das ORF Radio-Symphonieorchester bei einem Konzertabend mit Werken von Sergej Prokofjew und Sergej Rachmaninow. Weitere Gastdirigate führten sie nach St. Petersburg, Hong Kong, London, Houston und Amsterdam.
Giedrė Šlekytė
Mehrere aktuelle Top-Dirigentinnen sind an der Ostsee aufgewachsen. Mirga Grazinyté-Tyla gehört dazu, Susanna Mälkki, Kristiina Poska, Anu Tali und eben auch Giedrė Šlekytė. Die 34-Jährige aus Litauen war von 2016 bis 2018 erste Kapellmeisterin am Stadttheater Klagenfurt, dirigierte anschließend die Kinder-Zauberflöte bei den Salzburger Festspielen und ist mehrfache Preisträgerin. Seit 2021 ist sie erste Gastdirigentin des Bruckner Orchesters Linz.
Auftritte in Salzburg: Hier stehen Frauen am Pult
Unsere fünf Beispiele belegen: Es gibt längst keinen Grund mehr, anzunehmen, dass Frauen große Orchester weniger gut führen können als Männer. Wer sich dennoch davon überzeugen will, hat in den nächsten Monaten auch in Salzburg mehrmals die Gelegenheit.
Giedrė Šlekytė (Titelbild) präsentiert von 20. bis 22. Dezember im Großen Festspielhaus gemeinsam mit dem Pianisten Francesco Piemontesi und dem Mozarteumorchester Salzburg Werke von Mahler, Mozart und Beethoven. Marie Jacquot (kleines Bild) ist von 17. bis 19. Jänner 2024 zu Gast, sie dirigiert die Wiener Symphoniker sowie Dalibor Karvay und Leonidas Kavkos an der Violine. Auf dem Programm stehen Werke von Erich Wolfgang Korngold, Felix Mendelssohn Bartholdy und Pjotr Iljitsch Tschaikowsky.
Titelbild: Nikola Milatovic; kleines Bild: Werner Kmetitisch